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Alois Schirmer

Wer die Hoffnung aufgibt, gibt sich selbst auf!

Midelt im Atlasgebirge Juli 1944

Midelt liegt etwa 1800 Meter hoch, umringt von den Bergen des Atlas Gebirges. Die Baracken des Hauptlagers standen in der Ebene. Unsere Unterkunft, früher als Pferdestall genutzt, hatte einen Steinboden, auf dem an den Wänden entlang Halfagras, das wir vorher selbst in der Umgebung sammeln mußten, als Schlafunterlage ausgebreitet war. Darauf legte man seinen Mantel oder die Zeltplane, wenn man so etwas noch besaß. Wir wurden wie Tiere gehalten. Im Gebälk tummelten sich die Ratten. Unter uns waren "Spezialisten", die auf den Balken Schlingen legen konnten, in denen sich die Ratten fingen. Früh baumelten sie dann über uns.
Schlimmer als Ratten waren die Flöhe. Unvorstellbare Heerscharen überfielen uns in der Nacht. Um sich dieser Plage zu erwehren, vernähte ich meine Decke mit doppelter und dreifacher Naht zu einem Sack und vernähte auch die vierte Seite soweit, daß ich mich gerade noch hineinzwängen konnte. Befand ich mich in meinem "Schlafsack", nahm ich noch den offenen Zipfel und legte den Kopf darauf. Von Schlaf konnte keine Rede sein; "die Nacht herumbringen" wäre eine zutreffendere Aussage. Am frühen Morgen ging ich mit meinem "Schlafsack" in den Hof, kehrte das Innere nach außen und breitete ihn auf der Mauer aus. Jetzt konnte ich die vor Kälte erstarrten Flöhe von der Decke einsammeln und zwischen den Fingernägeln zerquetschen. Tag für Tag zählte ich an die hundert Flöhe, die mir in der vergangenen Nacht mein Blut aussaugten und mich damit quälten. Die meisten waren Weibchen, denn die nach der Paarung erschöpften Männchen waren eine leichte Beute der gefräßigen Weibchen. Auch tagsüber wurden wir  von den Flöhen angefallen, doch daran hatten wir uns allmählich gewöhnt. Nur beim Frühappell, wenn wir längere Zeit in Reih und Glied auf einer Stelle standen, verjagten wir die Plagegeister mit Schlägen.

Abends war Zählung in der Unterkunft, also im Stall. Jeder der französischen Offiziere, die eingeteilt waren uns zu zählen, hatte seine eigene Methode. Manche zählten gewissenhaft, oft sogar mit namentlichen Aufruf, andere wieder fragten nur, ob wir alle da wären und verschwanden wieder, denn auch die Franzosen wurden von den Flöhen geplagt. Ein Leutnant aber, der immer betrunken ankam, hatte eine besondere Methode, uns zu zählen. Beim Betreten der Unterkunft zog er seine Pistole und richtete diese auf den ersten, dann auf den zweiten usw. und zählte dabei laut un, deux, trois, quatre, sinq, six, sept, huit, neuf, dix. Bei zehn hob er die Pistole und feuerte einen Schuß in die Decke ab. Das wiederholte sich bei jedem zehnten Mann. Ich war immer darauf bedacht, nicht der Zehnte zu sein, denn wenn der betrunkene Franzose einmal seinen Arm nicht heben würde und abfeuerte, was dann? Gott sei Dank blieben wir davor verschont.

Auch dieses Martyrium hatte einmal ein Ende. Die Franzosen gaben es auf, uns davon überzeugen zu wollen, daß eine Meldung zur Fremdenlegion unsere einzige Überlebenschance bedeute. Das Zwangslager wurde aufgelöst, und wir kamen ins Hauptlager. Dort war genügend Platz, denn in der Zwischenzeit wurden weitere Gefangene von den Amerikanern abgeholt und nach Amerika gebracht. Mein Freund Ernst war auch darunter. Nun war ich ganz allein auf mich gestellt.

Dr. Hanns Voith  - Ernst Linse  -   Klaus-Peter Höppner  -   Maria Beuttel  -   Hanne Uhl  -  Elvira Muschler
Notrezepte und Überlebensstrategien


26. 04. 2002; Lilli Meinecke Lilli.Meinecke@web.de
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