Zur Einführung
von Prof. Dr. Ute Leitner
Flüchtlinge und Heimatvertriebene im Kreis Heidenheim:
Ein (Forschungs-) Thema für die Seniorenakademie?
Die Projektgruppe "Zeitzeugen der Heimatvertreibung" traf sich zum ersten Mal
Anfang Oktober 1998 und dann über mehrere Monate im zumeist 14-tägigen
Turnus. In den ersten Sitzungen standen zunächst persönliche Erinnerungen
und Erzählungen im Vordergrund. Die äußerst lebhaften Schilderungen
und Diskussionen zeigten, wie unterschiedlich und vielfältig nicht nur
die Schicksale und Lebensgeschichten der TeilnehmerInnen waren, sondern auch
die Motive und Interessen an der gemeinsamen Projektarbeit. Dabei wurde festgestellt,
daß zwar schon viele Berichte über persönliche Erlebnisse und
Erfahrungen veröffentlicht seien, diese aber wenig beachtet würden.
Insbesondere die jüngere - aber auch die mittlere - Generation sei über
die geschichtlichen Fakten und Zusammenhänge kaum oder gar nicht informiert.
Der Unkenntnis und dem Vergessen entgegenzuwirken, sollte somit nach übereinstimmender
Aussage, ein wichtiges Ziel der gemeinsamen Projektarbeit sein.
Wie dies erreicht werden könnte, wurde ausführlich diskutiert
und die Idee befürwortet, eine Ausstellung, die in Schulen und anderen
(Bildungs-) Einrichtungen gezeigt werden könnte, zu kombinieren mit
einem (wechselnden) Rahmenprogramm mit Erzählungen, Berichten und
Diskussionen sowie einer Sammlung von wichtigen Dokumenten und persönlichen
Erinnerungen. Damit sollte zunächst ein grundsätzliches Interesse
für das Thema "Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg"
geweckt werden.
Die hier gesammelten Beiträge sind sehr persönliche und daher
auch in Form und Inhalt sehr unterschiedliche Antworten auf die Fragen,
die im Verlauf des Projektes immer wieder auftauchten:
„Was ist Ihnen wichtig, anderen mitzuteilen über die Kultur
und das Leben in ihrer früheren Heimat, - über die Hintergründe
und die Umstände von Flucht, Vertreibung, Aussiedlung - und das Leben
danach?
Was sollte - Ihrer Meinung nach - nicht in Vergessenheit geraten?
Was sollte (wieder) bekannt werden?
Worüber würden Sie gern mit anderen reden?“
Die Reihenfolge der Beiträge orientiert sich an einer "Reise" mit dem
Finger auf der Landkarte: Sie beginnt im Nord-Osten und sucht in einem weit
gespannten Bogen die Geburtsorte der Autorinnen und Autoren auf.
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"Es war ein Land -Kindheit und Jugendzeit in Ostpreußen"
Am Anfang steht daher der Beitrag von Christel Fleischmann .
Sie wurde 1921 in Königsberg geboren und schildert ihre Kindheit
und Jugend in Ostpreußen als unbeschwerte Zeit „mit strenger,
aber gerechter Erziehung“. Nach dem Kriegsabitur, einem Schnellkurs und
Tätigkeit als Laienlehrkraft, Kriegstrauung und Geburt der Tochter
erlebt sie im August 1944 die Zerstörung ihrer Heimatstadt. Im Oktober
1944 flüchtet sie mit der Tochter aus Königsberg, kommt nach
Dresden (Luftangriff Februar 1945) und gelangt schließlich
bis Gussenstadt bei Heidenheim. Mit den persönlichen Erinnerungen
untrennbar verbunden ist das Gedenken an die kulturhistorische Bedeutung
ihrer Heimat. Sie schreibt: „Mich betrübt es sehr, daß außer
einigen älteren Leuten, die dort gewohnt haben, Ostpreußen niemand
mehr kennt, nie davon gehört hat, nicht weiß, daß es einst
der Mittelpunkt Europas war, mit Königsberg als einer der bedeutenden
Universitäten, wo einst Kant, der größte deutsche
Philosoph gelehrt hat ... „
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"Meine Erlebnisse"
Waldemar Bittner wurde 1927 in Krotoschin, Reg. Bezirk Posen,
geboren. In seinem Bericht verweist er auf das problematische Verhältnis,
das sich dort nach dem 1. Weltkrieg zwischen Deutschen und Polen entwickelte.
1944 wurde er zum Arbeitsdienst und dann zur Wehrmacht eingezogen und geriet
in amerikanische Gefangenschaft. Nach der Entlassung konnte er zu seinen
Eltern in Heidenheim „zurückkehren“.
„Heidenkinder durfte man verprügeln...“
Brunhilde Skupin wurde 1938 in Breslau geboren. Sie erzählt
von Erinnerungen an ihre Kindheit, die geprägt war vom Kriegsalltag,
von der überstürzten Flucht im Januar 1945, von den Jahren,
in denen sie das „Flüchtlingskind“ oder auch - weil evangelisch –
das „Heidenkind“ war. Sie beschreibt die Wohnverhältnisse in dieser
Zeit, erzählt von Kinderspielen ohne „Spielzeug“ und vom Glück
eines unerwarteten Geschenkes. Trotz aller Sparsamkeit und Bescheidenheit
der Verhältnisse sagt sie: “Ich hatte nie das Gefühl, daß
mir etwas fehlt.“
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„Gebe Gott, daß nie wieder Krieg kommt,
nie wieder einer Flüchtling wird...“
Elisabeth Starzinsky wurde 1913 in Kaminitz (Kreis Lublinitz)
geboren. Sie berichtet über eine glückliche Kindheit, ihre Ausbildung
und Berufstätigkeit als Kostümbildnerin am Theater in Ratibor
bis zur Eheschließung im Jahr 1939. In den letzten Kriegsmonaten
flüchtet sie mit ihrer Mutter und ihren zwei kleinen Kindern aus Ratibor
und gerät auf eine Irrfahrt, die sie über Österreich und
Norddeutschland schließlich nach Süddeutschland führt.
Rückblickend schreibt sie über diese Zeit: „Wir haben nie auf
den Wind gewartet, sondern sind selbst gerudert und kamen dann auch an
Land. Jetzt bin ich manchmal sehr müde, aber sehr dankbar, daß
ich ein Stück höher geklettert bin. Ich bin zufrieden und nicht
neidisch.“
Es ist ihr ausdrücklicher Wunsch, daß die Nachgeborenen
aus den Fehlern der Vergangenheit lernen mögen: „Lernt aus unserer
Berichten. Hilfe, Mitgefühl, Kraft, Liebe und Stärke sollen euch
ein Leben lang begleiten.“
„Von einem Tag zum anderen mußten
wir Kinder erwachsen werden...“
Lydia Skupin wurde 1934 in Beuthen geboren und mußte von
dort 1945 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern „von einer Stunde zur
anderen“ flüchten: „Von einem Tag zum anderen mußten wir Kinder
erwachsen werden.“ In einem Interview mit einer Studentin erzählt
sie von der verlorenen Kindheit und Jugend in der Fremde. Sie beschreibt
das Wiedersehen mit der alten Heimat nach 50 Jahren und plädiert für
mehr Verständnis zwischen den Nationen: „Warum Haß und Neid
gegeneinander ausspielen? Europa wird immer größer, und das
ist gut so, denn wir steuern auf ein vereintes Europa zu.“
„Erinnerungen...“
Siegfried Renelt wurde 1930 in Losdorf (Kreis Tetschen) geboren.
Im Juni 1945 mußte er mit seiner Familie innerhalb von zwei Stunden
Haus und Hof verlassen. In seinen Erinnerungen beschreibt er den Alltag
und besondere Festtage (Ostern und Kirchweih) in seinem Heimatdorf.
Er berichtet über die Jahre danach, zunächst in Sachsen, dann
nach der – nun freiwilligen – Flucht im Jahr 1952 von der Existenzgründung
in Westdeutschland.
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„Mein Leben...“
Ferdinand Fastner wurde 1931 in Kaltenbach (Böhmerwald)
geboren. In seinen Erinnerungen vermittelt er einen Eindruck von der reichen
bäuerlichen Kultur seines Heimatlandes. Er schreibt über die
Zeit nach der Vertreibung, über die beharrlichen und erfolgreichen
Anstrengungen, in der „neuen Heimat“ über Lehre und Studium eine berufliche
Existenz aufzubauen. Zur Vertreibung der Sudetendeutschen hat er eine persönliche
Stellungnahme beigefügt.
„Brauchtum im Böhmerwald...“
Adalbert Großhable wurde 1919 in Ratschin/Kreis Krummau
geboren. Er beschreibt die Landschaft seiner Kindheit und Jugend und läßt
mit seinem Beitrag „Brauchtum im Böhmerwald“ die Volkskunst seiner
Heimat lebendig werden.
„Brünner Todesmarsch ... ich habe immer
versucht, das loszuwerden...“
Liselotte Ott wurde 1933 in Brünn geboren. Im Frühjahr
1945 wurde sie zusammen mit den in Brünn verbliebenen 30 000 Deutschen
auf den (später so genannten) „Brünner Todesmarsch“ geschickt.
Ihre Mutter erkrankte an Typhus und verstarb im September 1945 in Wien.
In ihrem Bericht schildert sie, was sie als damals 12jähriges Kind
erlebt hat – und als Erwachsene nie vergessen konnte. In einem Interview
sagte sie: „Als ich meine Mutter nicht mehr hatte, bekam ich zu verstehen,
daß ich auf der Welt der letzte Dreck bin, den niemand haben will,
ich war eine Belastung, ob es die Tante oder die Bäuerin war. So etwas
kann einen ein Leben lang verfolgen, daß man niemandem etwas bedeutet.“
Auf Wunsch einer Studentin nahm sie Stellung zu einem Leserbrief, in
dem (1999) die Situation der Kosovo-Flüchtlinge mit der Situation
der Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg verglichen wird: „Ich erkenne mich
in den Kindern, deren Eltern man ermordet hat. Für sie ist dieser
Verlust jetzt die Katastrophe, deren Auswirkung sie ihr ganzes Leben begleiten
wird. Den Verlust der Heimat empfindet das Kind als eine Art Abenteuer.
Mit zunehmendem Alter wird die Beziehung zur Heimat stärker.“
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„Die Vertreibung fanden wir anfangs nicht tragisch,
wir dachten ja,
daß wir wieder zurückkommen würden...“
Theresia Großhable wurde 1929 in Zsambek (Kreis Budapest)
geboren. Ihre Kindheit beschreibt sie als arbeitsam, erlebnisreich und
geborgen. Mit 13 Jahren wird sie nach Budapest „in Anstellung“ geschickt
und arbeitet dort als Hausangestellte und Kindermädchen.
Das Ende des Krieges erlebt sie in ihrem Heimatort. 1946 wird sie
von dort mit einem der Transporte nach Herbrechtingen gebracht. Sie
schreibt: „Die Vertreibung empfanden wir anfangs nicht so tragisch, wir
dachten ja, daß wir wieder zurückkommen würden.“ Bis heute
ist sie bemüht und aktiv, das kulturelle Erbe und die Verbindung zwischen
der alten und der „neuen Heimat“ zu pflegen.
„Das Lesen machte mir Schwierigkeiten, denn wir
waren ja nur in
ungarischer Sprache unterrichtet worden. Jetzt wurde mir erst so richtig
bewußt, daß wir die Heimat verloren hatten...“
Albin Schiessl wurde 1932 in Ürom/Ungarn (in der Nähe
von Budapest) geboren. Er schildert die Zeit vor und nach Kriegsende bis
zur Vertreibung im April 1946. Nach 14 Tagen Lagerleben begann für
ihn 1946 in Sontheim/Brenz ein neuer Lebensabschnitt. In der Geschichte
„Weihnachten 1948“ schreibt er dazu: „Langsam schwinden die Hoffnungen
meiner Eltern, wieder heimkehren zu dürfen. Für meine Brüder
und mich war dies kein Problem mehr. Wir betrachteten Deutschland bereits
als unsere neue Heimat.“
„Glückliche Kindheit und Jugend in Palanka/Batschka
an der Donau...“
Maria Bahmer wurde 1927 in Batschka Palanka (Jugoslawien) geboren.
In ihrem Beitrag „Glückliche Kindheit und Jugend ...“ schreibt sie:
„Es war wie im Schlaraffenland. Allerdings mußte man sehr viel arbeiten,
woran man aber von Kindheit an schon gewöhnt war.“ Sie berichtet über
das Leben der Bauern, beschreibt deren Häuser , Höfe und Landwirtschaft
und schildert eine typische Bauernhochzeit und erinnert damit an das reiche
Kulturleben der Donauschwaben, das am Ende des Jahres 1944 für immer
verloren ging. Danach folgten für sie – wie für viele andere
- Vertreibung, Internierung, Zwangsarbeit und erneute Umsiedelungen. In
Wien erfährt ihre Familie, daß die Schwester der Mutter in Württemberg
lebt, „ ... und da wollten wir auch hin, obwohl wir keine Ahnung hatten,
was Württemberg überhaupt ist, ob Stadt oder Land.“ Im April
1947 gelangte die Familie nach Söhnstetten .
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„Lebenslauf...“
Andreas Pfaff wurde 1930 in Batschko – Novoselo (Jugoslawien)
geboren. In seinem Lebenslauf erzählt er vom Ende einer Kindheit,
in der es Prügelstrafen „von der ersten bis zur letzten Klasse“ gab,
aber auch viele Möglichkeiten und Gelegenheiten zum Spielen im Freien.
Im Oktober 1944 beginnt die Flucht vor der russischen Armee und führt
zuerst nach Österreich, dann nach Kriegsende nach Bayern in
verschiedene Lager. Nach einigen Jahren in Dinkelsbühl gelingt es
der Familie, in Steinheim ein Haus zu bauen und seßhaft zu werden.
„Erinnerungen an Kindheit und Jugend in
Banat Brestowatz...“
Simon Schwarz wurde 1926 in Banat Brestowatz (Jugoslawien) geboren.
Ende 1944 wird er zur Zwangsarbeit nach Rußland geschickt. Über
die Zeit, die er dort in verschiedenen Arbeitslagern verbrachte, sowie
über seine abenteuerliche, aber mißglückte Flucht im Jahr
1947 und den daran anschließenden Aufenthalt in einem Straflager
bis zur Entlassung und „Heimkehr“ zu seinen Eltern nach Giengen (1949)
hat S. Schwarz bereits in einer kleinen Broschüre unter dem Titel
„Die überstürzte Flucht“ berichtet. Daraus wurden hier einige
Seiten übernommen. Davor erzählt er von Erlebnissen in der elterlichen
Landwirtschaft, berichtet über seine Schulzeit und die ersten Jahre
in der Lehrerbildungsanstalt. Angefügt ist ein Interview mit einer
Studentin (1998).
„Man kann das alles gar nicht in so kurzer
Zeit erzählen...“
Bela Hedrich wurde 1934 in Pantschowa (Jugoslawien) geboren.
Im November 1944 kam er in ein Internierungslager, wo er die folgenden
Jahre (bis 1948) verbrachte. Die Erinnerungen an diese Zeit lassen ihn
bis heute nicht los. Er sagt dazu: „Man kann das alles gar nicht in so
kurzer Zeit erzählen. Mir liegt daran, daß das aufgeschrieben
wird...“
In der Geschichte „Weihnachten 1944“ beschreibt er die Trauer, Angst
und Erniedrigung, die er als 10jähriges Kind erleben mußte.
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„Was es heißt, ein Spätaussiedler
zu sein...“
Der letzte Beitrag scheint auf den ersten Blick aus der Systematik
dieser Reihe herauszufallen. Er steht unter dem Titel „Was es heißt,
ein Spätaussiedler zu sein“ und handelt von der Lebensgeschichte
, die ihren Anfang nimmt in Temeschburg, der Hauptstadt des ehemaligen
Rumänischen Banates, und sich über lange Jahre zu einer Geschichte
der Vertreibung aus der Heimat im eigenen Land entwickelt. Sie stellt somit
eine weitere Facette dar im Spektrum der durch Flucht, Vertreibung und
„Aussiedlung“ gezeichneten Biographien dieser Generation.
Rudolf Krauser wurde 1928 in Temeschburg geboren . Dort besuchte
er die deutsche Schule und die Violin-Klasse des städtischen Konservatoriums.
Es gelang ihm, den im Januar 1945 einsetzenden Verschleppungen der Deutschen
in die Sowjetunion zu entgehen und später seine Studien fortzusetzen.
In seinem Bericht schildert er die bedrängten und verzweifelten Verhältnisse
, denen er in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten als Berufsmusiker
ausgesetzt war. Ein Ausreiseantrag im Jahr 1970 wird abgelehnt. Nach
einem gescheiterten Fluchtversuch gelingt die Ausreise schließlich
im September 1979. In Deutschland angekommen, ist jedoch noch keineswegs
„ Ende gut alles gut“. Dazu heißt es an einer Stelle: „Als ich im
Fernseh-Programm von den Nöten der ehemaligen Entführungsopfer
von Mogadischu erfuhr, habe ich meine Lage erst richtig begriffen. Diese
waren 24 Stunden lang einer brutalen Willkür ausgesetzt, ich viele
Jahre lang.“
Heute – nach nunmehr 20 Jahren – schließt er seinen Bericht mit
folgenden Worten: „Die Notwendigkeit einer neuen geistigen Orientierung
setzt sich auch in Europa durch. Wir dürfen es erleben, wie alte europäische
Erbfeinde zu eng verflochtenen Verbündeten werden, zwischen denen
ein Krieg unmöglich wird. Wir erleben es, wie Krieg und Vertreibung
geächtet und bekämpft werden. Das gibt mir die Hoffnung, daß
meine Nachkommen von Krieg und Vertreibung verschont bleiben.“
Das Buch mit ca. 185 Seiten kann zum Preis von DM 15,- bezogen werden
bei der
Seniorenakademie Heidenheim
Postfach 1130
89520 Heidenheim |
oder hier direkt per E-Mail: schieszl@ba-heidenheim.de
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